Steve Petzold im Interview – Warum Pflegekräfte trotz Fachkräftemangel regelrecht verheizt werden

Uffenheim (ak). Anfang Juni hat das Bundessozialgericht ein Grundsatzurteil gefällt: Fortan sind Honorarpflegekräfte, welche in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern beschäftigt sind, dazu verpflichtet, in die Rentenversicherung einzuzahlen. Steve Petzold kann diese Entscheidung nicht nachvollziehen.

Anfang Juni hat das Bundessozialgericht ein Grundsatzurteil gefällt: Viele Honorarpflegekräfte sind davon betroffen und müssen nun in die Rentenkasse einzahlen.

Der Uffenheimer Unternehmer ist seit Jahrzehnten in der Pflegebranche aktiv, unter anderem als Personaldienstleister. Während seiner Laufbahn konnte er zahlreiche Einblicke und Erfahrungen sammeln. „Ich habe europaweit viele Häuser gesehen“, so Petzold. Auf den aktuell ohnehin herrschenden Pflegekräftemangel verweisend, sei die Versicherungspflicht „nicht gerade förderlich“…

Steve Petzold blickt auf Jahrzehntelange Erfahrung in der Pflegebranche zurück. Seine Forderung nach jüngstem Gerichtsurteil: „Politik und Rentenkasse sollen keine Jagd mehr auf Freiberufler machen!“

Dennoch handele es sich hierbei nur um den Tropfen auf dem heißen Stein: „Schätzungen gehen von gerade einmal 7.000 bis 12.000 Honorarpflegekräften bundesweit aus“, erklärt Petzold. Was anhand des gefällten Urteils jedoch deutlich wird, ist eine weitaus umfassendere Problematik: Trotz eines Mangels werden Arbeitnehmer oft regelrecht verheizt. Anstatt mit guten Konditionen – in einem ohnehin anspruchsvollen Berufsfeld – zu locken, berichten Pflegekräfte häufig davon, dass sie das Gegenteil erleben. Doch wie lässt sich diese paradoxe Situation erklären? Was sind die Gründe? Geht es theoretisch auch anders? Auf diese und weitere Fragen geht Petzold im nachfolgenden Interview ein.

 

BlickLokal (BL): Erst einmal ganz grundlegend. Worin sehen Sie persönlich die Ursache für den gegenwärtigen Pflegenotstand?

 

Steve Petzold (SP): Wie meistens fängt das auch hier beim Geld an. Zum Teil sind die Krankenkassen mit Schuld. Zudem mangelt es nicht nur an finanzieller, sondern auch sozialer Anerkennung. Pflegekräfte bekommen in der Gesellschaft oft kaum Wertschätzung. Zum Teil sind Putzfrauen besser angesehen als Pfleger, die Arbeit wird nicht gewürdigt.

 

BL: Das heißt, viele werden bereits vor der Ausbildung abgeschreckt oder erst im späteren Berufsalltag?

 

SP: Oft werden die Leute, die motiviert sind, so verheizt, dass sie nach zwei Jahren keine Lust mehr haben. Wo wir gerade beim Thema Ausbildung sind – genau hier sollte man anfangen. Die Voraussetzungen müssten erleichtert bzw. verändert werden. Wichtige Aspekte, wie etwa soziale Kompetenz, sind zum Beispiel nicht erlernbar, spielen aber im Berufsalltag eine wichtige Rolle. Bei der Ausbildung wird das nicht berücksichtigt. Es zählt nur „fachliches Wissen“.

 

BL: Stichwort finanzielle Anerkennung – mit welchem Einkommen kann man in der Pflege durchschnittlich rechnen?

 

SP: Die Bezahlung hat sich in den letzten Jahren schon leicht verbessert. Durchschnittlich kann man vermutlich zwischen 2.500 und 3.500 Euro Brutto verdienen. Wobei erster Wert schon die Untergrenze sein sollte. Insgesamt ist das aber immer noch zu wenig. Man muss nur das Risiko bedenken, dass man als Pfleger ständig mit einem Bein im Gefängnis steht… Diese Verantwortung wird nicht bezahlt.

 

BL: Warum scheint es so schwierig zu sein, die Zustände in der Pflege zu verändern – zugunsten der Arbeitnehmer?

 

SP: Was hier fehlt ist eine Lobby. Es gibt zwar Pflegekammern, allerdings fordern diese auch Beiträge ein.

 

BL: Gibt es denn aus Ihrer Sicht praktische Lösungen für die Problematik?

 

SP: Die Politik müsste die Bürokratie auf das Nötigste eindämmen. Zurzeit hat eine Fachkraft pro Schicht etwa eineinhalb Stunden Schreibarbeit, das muss reduziert werden. Man sollte die Anforderungen und Standards herunterschrauben. Ein zweiter Weg wäre – wie vorhin bereits erwähnt – den Weg zur Ausbildung zu erleichtern. So, dass zum Beispiel auch Hauptschüler nach bestandenem Eignungstest zur Ausbildung zugelassen werden.

 

BL: Sie haben bereits in einer ganzen Reihe von Einrichtungen gearbeitet. Darauf zurückblickend, was sind in der Praxis Gründe dafür, dass Pflegepersonal schlechte Arbeitsbedingungen hat? Vermutlich handelt es sich nicht um pure Willkür der Vorgesetzten…? Warum ändert man nichts?

 

SP: Nicht jedes Unternehmen ist schlecht. Zwar gibt es auch Ausnahmen, aber viele bemühen sich. Aber die Politik macht das schwer. Es gibt viele Vorgaben, wodurch Veränderungen gebremst werden. So sieht zum Beispiel der Pflegeschlüssel in Bayern während der Nachtschicht nur drei Pfleger pro 102 Patienten vor. Es ist alles von oben her geregelt.

Pro Schicht im Krankenhaus fallen etwa eineinhalb Stunden Schreibarbeit für jede Pflegekraft an. Diese müsse laut Petzold „auf das Nötigste“ reduziert werden.

 

BL: Wenn Sie politisch entscheidungsbefugt wären, wie würden ihre Lösungsansätze aussehen? Beispiele?

 

SP: Zum Beispiel könnte man den Beruf etwas flexibler gestalten, indem Vorschriften gelockert werden. Schätzungsweise zwischen 20.000 und 30.000 junge Frauen in Deutschland können nicht arbeiten, trotz Ausbildung. Die Politik könnte hier relativ unkompliziert unterstützen und etwa Zuschüsse für KiTa und Co bereitstellen. Außerdem machen viele Vorschriften einfach keinen Sinn, da sie aufgrund von Personalmangel überhaupt nicht erfüllbar sind. Die einzige Konsequenz ist, dass das vorhandene Personal noch zusätzlich belastet wird. Somit hat man eine Spirale nach unten…

 

BL: Was hat es damit auf sich, dass nun auch noch versucht wird, die Freiberufler „loszuwerden“? Wo ergibt sich hier der Sinn?

 

SP: Da stecken die Rentenkassen dahinter. Diese wollen, dass Freiberufler rentenpflichtig werden. Die Pflegeeinrichtungen haben nun Angst diese Kosten übernehmen zu müssen… Die Ironie an diesem Theater besteht in der Urteilsbegründung. Die genaue Anzahl an Freiberuflern könne nicht einmal beziffert werden… Wahrscheinlich liegt das daran, weil die Anzahl so niedrig ist. Und trotzdem der Aufriss. Damit werden Existenzen zerstört. Ich finde das ein Unding.

 

BL: Wenn Sie zurückschauen, was sind „extreme“ Fallbeispiele für Situationen, in denen Pflegepersonal „schlecht behandelt“ oder „ausgebeutet“ wurde?

 

SP: Einmal wurde jemand im Mallorca-Urlaub angerufen „sie kommen morgen sofort zurück zum Dienst. Sonst hat das arbeitsrechtliche Konsequenzen.“ Auch ist es keine Seltenheit, dass Pfleger bis zum Umfallen arbeiten, da sie Angst haben, den Job zu verlieren, wenn sie krank machen. Generell wird das Arbeitsrecht oft nicht eingehalten, zum Beispiel, was Pausen betrifft.

 

BL: Wie lange ist die vorgeschriebene Pausendauer zwischen zwei Schichten offiziell?

 

SP: Theoretisch müssen zwölf Stunden Pause zwischen zwei Schichten liegen. In der Praxis wird das aber oft ignoriert. Jedoch kann man hier nicht direkt den Unternehmen die Schuld geben, diese haben aufgrund von Personalmangel und gleichzeitigen Gesetzesvorschriften oft gar keine Wahl. Und wenn die Schichten unterbesetzt sind müssen letztendlich die Patienten darunter leiden…

Jeder kann über kurz oder lang selbst zum Pflegefall werden – oft auch unerwartet. Ein Thema also, das jeden betrifft…

 

BL: Gibt es Beispiele aus Ihrem Erfahrungsschatz, wo dies der Fall war?

 

SP: Einmal habe ich mitbekommen, wie in einer Nachtschicht zwei Menschen verstorben sind. Dabei war das Problem, dass nur eine examinierte Fachkraft vor Ort war, es aber zwei Notfälle gab… Wäre mehr Personal da gewesen, hätten die Patienten sehr wahrscheinlich überlebt.

 

BL: Vermutlich ist es doch auch in der Pflegebranche so, dass Ausnahmen die Regel bestätigen… Haben Sie Häuser erlebt, wo es anders ist und man versucht, die Umstände für das Personal so gut wie möglich zu gestalten?

 

SP: Ja, ich habe definitiv gesehen, dass es auch anders geht. Es funktioniert, dass Unternehmen ihre Mitarbeiter gut behandeln und trotzdem lukrativ sind. Wenn der Aspekt des Menschseins gefördert wird, dann mach die Arbeit auch Spaß. Ich habe das selbst oft erlebt. Die Arbeit an sich war zwar schwer, aber wenn man trotzdem die Möglichkeit hat, mit den Patienten/Bewohnern Zeit zu verbringen, ist das schön und erfüllend. Das Interessante ist, dass solche Unternehmen, wo der menschliche Aspekt noch im Vordergrund steht, meist auch keinen Personalmangel haben…

 

BL: Genau dieser beschriebene Zeitmangel, und der Fakt, dass man keine Zeit mehr für die Patienten hat, sind mit Sicherheit für viele Pfleger ein Grund den Beruf zu wechseln, oder?

 

SP: Ich würde sagen 95 Prozent aller Pfleger machen ihren Beruf mit Leidenschaft, für diese ist das nicht nur ein Job, sondern eine Berufung. Gerade da geht einfach die Freude verloren, wenn man keine Zeit mehr für die Person gegenüber hat. Die Menschlichkeit ist in der Pflege verloren gegangen. Die ganze Branche ist viel zu kommerziell geworden.

 

BL: Diese Aussage führt zu einer weiteren Grundsatzfrage: Sollten Krankenhäuser oder generell Pflegeeinrichtungen überhaupt als gewinnabwerfende Wirtschaftsunternehmen geführt werden?

 

SP: Ich denke, wir brauchen eine gesunde Mischung aus privaten und staatlich subventionierten Einrichtungen. Zudem sollten kleinere Träger verstärkt unterstützt werden.

 

BL: Wenn die Entwicklungen so weitergehen, wo sehen Sie die Pflegebranche in 15 bis 20 Jahren?

 

SP: Eigentlich ist der Beruf wunderschön, aber nach außen kommt das einfach nicht so rüber. Wenn nichts geändert wird, sehe ich kein Ende in Sicht. Wir befinden uns in einer Abwärtsspirale, die zerbrochen werden muss. Es wird Zeit, dass die Pflegekräfte vereint aufstehen und ihren Unmut zeigen. Zurückkommend auf das Thema Freiberuflichkeit, die Politik und Rentenkasse sollte sich hier etwas ändern – und keine Jagd mehr auf Freiberufler machen!

 

Das Interview wurde geführt von Amos Krilles

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