Verkürzte Innovationszyklen erfordern eine Öffnung des Planungsprozesses und mehr Flexibilität
Von Stefanie Harnisch
Bad Mergentheim. Die Stadt Bad Mergentheim lud zum Kamingespräch in den Roten Saal des Deutschordensschlosses Bad Mergentheim ein. Der Veranstaltungstitel „Auf dem Weg in die Stadt der Zukunft“ sprach das Publikum gerade vor dem Hintergrund der Urbanisierung an.
Herausforderung durch Urbanisierung – auch in Bad Mergentheim
Wie Oberbürgermeister Udo Glatthaar in seiner Begrüßungsansprache aufzeigte, ist auch in Bad Mergentheim eine kleine Urbanisierung zu beobachten: Bad Mergentheim ist in sieben Jahren um sieben Prozent gewachsen, was sich unter anderem an einem erhöhten Bedarf an Kinderbetreuungsplätzen, an mehr Kapazitäten in den Schulen und in der großen Nachfrage Wohnraum widerspiegele. In den angestoßenen Prozessen für Strukturveränderungen im Verkehr, der ökologischen Ausrichtung von Wohngebieten, der Gestaltung der Innenstädte und besonders dem erneuten Anlauf für die Landesgartenschau kommt aus Sicht der Stadt bereits eine nachhaltige Stadtentwicklung zum Ausdruck.
Frage nach Vorbereitung der Region
Wie man die Region für die nächsten Jahre vorbereiten könne, sei jetzt von Interesse. Die Stadt setzte durch den Vortrag des Referenten Alanus von Radecki vom Fraunhofer Instituts auf inspirierende Impulse aus Wissenschaft und Praxis. Insgesamt 77 Anmeldungen konnte die Stadt Bad Mergentheim für die Veranstaltung verbuchen. Darunter waren Vertreter aus allen Bereichen der Gesellschaft etc.
Alanus von Radecki: „Technologische Innovationen verändern das Stadtbild“
Alanus von Radecki ist Leiter der Morgenstadt-Initiative am Fraunhofer Institut („Leiter Team Urban Governance Innovation“). In der Morgenstadt-Initiative entwickelt die Fraunhofer-Gesellschaft gemeinsam mit Partnern aus Industrie und Kommunen die Lösungen für die Stadt der Zukunft. Der Wissenschaftler erwies sich als ausgezeichneter Redner und zeigte anhand vieler Beispiele eloquent das Spannungsfeld von Stadt und Technologie auf. So veränderten die technologogische Innovation der automatischen Aufzugsbremse im Mai 1854 durch Elisha Graves Otis sowie die Erfindung des Automobiles im Jahr 1886 durch Carl Benz das Stadtbild. Ersteres sorgte dafür, dass man Hochhäuser bauen und verdichtet wohnen konnte, letzteres ermöglichte dagegen die Mobilität und der Umzug in Vororte der städtischen Zentren wurde möglich. Als aktuelle technologische Innovation, die Veränderungen in den Städten nach sich zieht, nannte er das Smartphone.
Nach Ansicht von Alanus von Radecki bestimmten also bisher technologische Innovationen wie Städte gebaut wurden und wie sie aussehen. „Die Stadtentwicklung war oft ein Nebenprodukt der Technologieentwicklung“, so eine seiner Thesen.

Dr. Ing. Alanus von Radecki präsentierte Wissenschaft einmal erfrischend anders: Rhetorisch versiert, praxisnah, locker und mitreißend. Foto: Stefanie Harnisch
Großer Handlungsdruck erfordert neuen Weg: Bewusste Transformation dynamischer Stadtsysteme durch Technologie
Dies könne man sich aber nicht mehr leisten, da zwei Drittel der globalen Wertschöpfung und des globalen Fußabdruckes in Städten entstehe. Dadurch gebe es in den Bereichen Gesellschaft, Mobilität, Infrastruktur, Raum, Energie und Wohnen einen großen Handlungsdruck in Städten. Man müsse deshalb in Zukunft Technologieentwicklung im Hinblick auf die bewusste Transformation dynamischer Stadtsysteme betreiben.
Beispiele smarter Systeme, von denen Städte profitieren
Energie: Aktivhaus B10
Eine aktuelle Innovation sind beispielsweise Plus-Energie-Häuser. Das Aktivhaus B10 (in Berlin) erzeugt Energie für das gesamte Quartier. Auch das Stadion in Amsterdam, die sogenannte „Energie Arena Amsterdam“ sei ein Vorbild, da hier einfach eine Batterie anspringt, wenn man in den Spitzenlastenbereich komme. Zudem werde mit Photovoltaik aktiv Energie erzeugt, die selbst genutzt oder verkauft werden kann. Der Referent bezeichnete dies als ein smartes System.
Mobilität:
Im Bereich Mobilität sind Sharing Dienste, Car Sharing sowie Ride Sharing auf dem Vormarsch. „Urbane Mobilität wird vernetzt, autonom, elektrisch und geteilt“, prognostiziert von Radecki. Es würden aktuell viele praktischen Projekte zum autonomen Fahren laufen. Die Frage sei jedoch, wie dieses autonome Fahren ausgestaltet sein wird? Wie kann ein Fahrzeug mit den Menschen auf der Straße kommunizieren? Im Vortrag wurden Autos mit virtuellen Smileys etc. gezeigt. Autonomes Fahren sei toll für die letzte Meile, jedoch werde laut von Radecki die schienengebundene Mobilität die größere Rolle spielen.
Urbane Logistik:
Momentan gewinne auch die urbane Logistik an Bedeutung. Nicht zuletzt in Form des digitalen Einzelhandels bzw. von Online-Bestellungen nimmt der Wirtschaftsverkehr enorm zu. Das aktuelle, logistische System verschiedener Paketdienste bezeichnete der Referent als ineffizient, da durch eine bessere Koordinierung 75 Prozent aller Fahrten entfallen würden.
Einsatz von Geräuschsensorik mittels WLAN
Eine Innovation ist auch der Einsatz der Geräuschsensorik bei der Schaffung von Sicherheit. Im niederländischen Eindhoven wird durch den hohen Anteil an jungen Leuten und Studenten ein ausgeprägtes Partyleben gepflegt, Unruhe und Auseinandersetzungen auf der Straße sind dabei unerwünschte Phänomene. Daraufhin wurden Straßenlaternen mit WLAN-Netzen ausgerüstet, um quasi im offenen Labor und in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft die Polizei bei Schüssen, Glasbruch oder starker Aggressivität in der Stimme zu alarmieren. Dies berge natürlich auch Gefahren, die Privatsphäre zu verlieren. Die Frage laute daher, wie die Stadt Daten zum Wohle der Stadt nutzen kann? Dies seien alles Lösungen, Anwendungen von Technologien die bereits laufen.
Neu: verkürzte Innovationszyklen – eine Herausforderung durch weiterhin lange Entwicklungszyklen
Ein neues Phänomen durch die Digitalisierung seien auch die verkürzten Innovationszyklen von 1-2 Jahren, im Kontrast zu den langen Entwicklungszyklen. Deshalb müsste der Prozess der Planung geöffnet werden, flexibler sein. Flexibilität und vorausschauendes Handeln, das Antizipieren bestimmter Szenarien und die Berücksichtigung dessen bei der Raumplanung und -gestaltung seien angemessene Reaktionen auf verkürzte Innovationszyklen. Die Frage müsse sein, ob die Anwendung einer Innovation oder einer Technologie überhaupt zur Stadt passe.
Stadt als experimentelles Labor
Die Stadt sieht der Referent als experimentelles Labor. Das Scheitern gehöre hier einfach dazu, damit man sich in Zukunft besser an Situationen anpassen könne. Generell seien die Transaktionskosten bei vernetzten Systemen höher als bei konventionellen Systemen. Die Einbeziehung der Bürger und viel Flexibilität seien notwendig.
Dynamische Lebensläufe bringen neue bauliche Bedürfnisse mit sich
Stadtgestaltung in Zeiten dynamischer Lebensläufe sei ebenso spannend, machte der Referent die Zuhörer unterhaltsam und augenzwinkernd auf die veränderte demografische Entwicklung mit ihren zahlreichen Brüchen, Trennungen und Neuanfängen im Privat- und Berufsleben aufmerksam. Andere Familiensituationen erfordern demnach andere Wohnsituationen. Die raum -und stadtplanerische Lösung liege hier in flexiblen Gebäuden und durchmischten Quartieren. Man müsse Räume „aufmachen“ und „zumachen“ können.
Fazit
Folgendes Schlussfazit zog Alanus von Radecki: „Smarte Technologien helfen uns, die ambitionierten Ziele unserer gesellschaftlichen Transformation zu erreichen – Lösungen sind im Wesentlichen verfügbar. Neue Planungs- und Steuerungsmodelle und neue Finanzierungs- und Geschäftsmodelle erfordern neue Lösungen. Der Mut und die Zusammenarbeit auf allen Ebenen sind hier notwendig.“
Viel Input
OB Udo Glatthaar übereichte dem Referenten als Dankeschön ein Präsent mit Weinspezialitäten aus der Region. Der Vortrag bot den Zuhörern sowie auch der Stadt viel Input für neue Ideen, die im Anschluss an die Veranstaltung beim Empfang erst einmal ausgetauscht werden konnten. Die Anwendung und praktische Umsetzung des Vortrages anhand lokaler Beispiele sind vielversprechend. Wünschenswert wäre sicherlich gewesen, wenn der Referent in seinem Vortrag intensiver Bad Mergentheim und seine Herausforderungen einbezogen hätte. Nichts desto trotz wird der innovative Vortrag in der Kurstadt in guter Erinnerung bleiben und möglicherweise den Prozess der zukünftigen Stadtplanung weiter voranbringen.

OB Udo Glatthaar (links) überreichte Dr. Ing. Alanus von Radecki als Dankeschön für seinen Vortrag ein Präsent mit Weinspezialitäten aus der Region. Foto: Stefanie Harnisch