Hohe Dunkelziffer bei Essstörungen von Kindern und Jugendlichen

2021 waren im Main-Tauber-Kreis 22 AOK-versicherte Frauen wegen Magersucht in Behandlung

Main-Tauber-Kreis. Laut Robert-Koch-Institut finden sich bei einem Fünftel der Kinder und Jugendlichen zwischen 11 und 19 Jahren Hinweise auf ein gestörtes Essverhalten. Häufig wird dies jedoch nicht erkannt. Die Folge können schwere Erkrankungen sein. Wegen Magersucht wurden im Jahr 2021 im Main-Tauber-Kreis 22 AOK-versicherte Frauen und Mädchen bis 19 Jahre ärztlich behandelt. In Baden-Württemberg waren es 2.481 Patientinnen und Patienten. Laut statistischem Bundesamt waren 2020 in Deutschland 7.355 Menschen wegen Magersucht beim Arzt. Die Dunkelziffer dürfte nach RKI-Untersuchungen um ein Vielfaches höher sein und wurde durch die Corona-Pandemie weiter nach oben getrieben.

Zu den Essstörungen zählen unter anderem die Ess-Sucht, die Magersucht und die Ess-Brech-Sucht (Bulimie). Von 2017 bis 2021 ist die Zahl der Arztbesuche wegen solcher Erkrankungen bei den Heranwachsenden landesweit jährlich um 5,4 Prozent gestiegen. Seelisch bedingte Essstörungen sind mehr als ein Schlankheitstick oder der Wunsch, die Figur von hyper-dünnen Models zu erreichen: Sie sind ernstzunehmende psychosomatische Probleme.

Magersucht und Bulimie gehören zu den häufigsten chronischen Krankheiten im Kindes- und Jugendalter. Unbehandelt können folgenschwere gesundheitliche Komplikationen auftreten, Organe werden geschädigt. Im Extremfall sterben die Betroffenen. Zwischen 2010 und 2020 verloren in Deutschland pro Jahr zwischen 56 und 110 Menschen wegen Essstörungen ihr Leben, etwa 90 Prozent davon waren Frauen. AOK-Ernährungsfachkraft Ute Derleder aus Tauberbischofsheim: „Solche Suchterkrankungen können Lösungsversuche für tiefer liegende seelische Schwierigkeiten, stummer Protest oder Ersatz für verdrängte Gefühle und Bedürfnisse sein.“ Hauptmerkmal der Magersucht sei, so die Diplom-Oecotrophologin, ein starker Gewichtsverlust, den die Betroffenen bewusst herbeiführen. „Weitere Anzeichen sind eine permanente Angst vor Gewichtszunahme, auffällige Essrituale und eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers – extremes Untergewicht wird nicht als solches erkannt“, erläutert Ute Derleder. Typische Zeichen der Bulimie sind Heißhungerattacken gefolgt von Maßnahmen, um eine Gewichtszunahme zu vermeiden: Erbrechen, Hungern, extreme Diäten sowie der Missbrauch von Abführ- und Brechmitteln. Wenn Eltern oder Freunde eine solche Erkrankung für wahrscheinlich halten, sollte unbedingt ein Arzt zu Rate gezogen werden. Für die Behandlung ist dringend psychotherapeutische Hilfe notwendig. Das RKI fordert, dass Präventions- und Aufklärungsangebote bestimmte Zielgruppen verstärkt erreichen müssen. Deshalb seien zusätzliche Projekte in Kindergärten und Schulen notwendig. Wichtig dabei sei, auch die Eltern einzubinden und Faktoren, die dem Entstehen von Essstörungen entgegenwirken – etwa den familiären Zusammenhalt und die soziale Unterstützung der Betroffenen – konsequent zu stärken. Ute Derleder: „Der Facharztvertrag Neurologie, Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der AOK Baden-Württemberg fördert eine interdisziplinäre Versorgung durch Haus- und Fachärzte, bei der die individuelle Lebenssituation des Patienten berücksichtigt wird. Für die Versorgung bei Essstörungen ist dabei die enge Vernetzung sozialer Einrichtungen mit Reha-Angeboten und psychotherapeutisch-ärztlichen Maßnahmen wesentlich für den Erfolg.“

 

Bildunterzeile: Bei Essstörungen wird Genuss zur Qual. Betroffene haben häufig eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers und sollten ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Bild: AOK